Russland droht eine neue Mangelwirtschaft

2022-07-01 20:58:25 By : Ms. Linda Liu

Die Sanktionen scheinen Russlands Wirtschaft bislang nicht viel auszumachen. Aber die eigentlichen Probleme beginnen erst. Viele Unternehmen improvisieren bereits.

Moskau – Die Stimmung im Büro sei jetzt betont patriotisch, erzählt Andrej Iwanowitsch (Name geändert.) „Am Eingang hängt ein TV-Monitor, auf dem pausenlos von unseren militärischen Erfolgen in der Ukraine berichtet wird.“ Auch die Kollegen redeten optimistisch über Wladimir Putins „Militärspezialoperation“ im Nachbarland.

„Aber das Geschäft läuft miserabel“, Iwanowitsch ist Manager einer Moskauer Handelsfirma, die Technik für Gasanschlüsse verkauft. Es gebe keine Bau- und Ersatzteile mehr von Siemens, Bosch oder Hannowell, russische Alternativen seien nur schwer zu beschaffen und funktionierten viel schlechter. „Wir verkaufen jetzt Luft, sagen den Kunden am Telefon, wir hätten gerade nicht alles auf Lager, suchten aber eine Lösung. Und schlagen Lieferzeiten von 120 Tagen vor.“ Früher seien es vier Tage gewesen.

Aber der Bedarf der Kunden und Kundinnen bleibt. Der Manager überlegt, sich selbstständig zu machen, da könne er flexibler agieren. „Ich war in der Türkei, dort gibt es Hersteller, die halbwegs akzeptable Ersatzteile anbieten. Auch, wenn sie in Garagen produzieren.“

Nach vier Monaten Wirtschaftskrieg und allein sechs Sanktionspaketen der EU haben fast alle Branchen in Russland Produktionsprobleme. Insgesamt scheint die Wirtschaft aber wie ein Kamaz-Lastwagen zu laufen: Er rumpelt, aber wenn es sein muss, dann auch durchs Unterholz.

Die internationale Krise, die Moskau mit seiner „Spezialoperation“ gegen die Ukraine produzierte, trieb die Rohstoffpreise in die Höhe, ein Barrel Öl der Marke Brent kostete am Donnerstag rund 116 Dollar. Auch wenn die Russen ihr Öl wegen der Sanktionen 30 bis 50 Dollar billiger anbieten, prophezeit die Agentur Bloomberg dem Land für 2022 Brennstoffexporteinnahmen von 285 Milliarden Dollar, etwa 20 Prozent mehr als im Vorjahr.

Da gleichzeitig die Importe eingebrochen sind, verzeichnete Russland in den ersten vier Monaten 2022 einen Leistungsbilanzüberschuss von 106,5 Milliarden Dollar. Der wiederum puscht den Rubel, er steigt trotz aller Finanzsanktionen seit Monaten. Kostete ein Euro am 23. Februar 90,30 Rubel, so waren es am Donnerstagnachmittag nur noch 54,64 Rubel. Der Rubel, im Volksmund auch als „hölzern“ verspottet, ist von der Agentur Reuters zur „stärksten Währung der Welt“ erklärt worden. Jedenfalls ist es kein Krisen- oder gar Protestrubel.

Sein neues Gewicht liegt den Exporteuren jedoch schwer auf den Schultern, die Produktionskosten fressen größere Teile ihrer Fremdwährungsgewinne auf. Und es drückt auf die Steuereinnahmen, die der Staat von ihnen kassiert. Finanzminister Anton Siluanow klagte kürzlich, die Stärkung der vaterländischen Währung um einen Rubel im Vergleich zum Dollar koste den Jahresetat Russlands bis zu umgerechnet 3,6 Milliarden Euro.

Viele Menschen trauen dem Rubel jedoch nicht. Während der Kurs an der Börse am Donnerstag bei 54,64 Rubel für einen Euro lag, bekam man in manchen Moskauer Wechselstuben 64 Rubel für einen Euro. Die Menschen in Russland bewegen sich in einer neuen Wirtschaftswelt, die sich äußerlich nur wenig geändert hat. Im schicken Moskauer Einkaufszentrum Metropolis sind etwa 20 Prozent der teuren, oftmals westlichen Markenläden geschlossen. Auch auf der Mjasnizkaja im Stadtzentrum haben das Café „Chleb Nasuschnij“ oder das kleine Kondom-Geschäft daneben ihre Firmenschilder abmontiert.

Doch gegen die sich abzeichnenden Konsumflaute sollen neue, heimische Ketten helfen. Auf der Mjasnizkaja wirbt hoffnungsvoll eine Nixe auf karmesinrotem Sperrholz: hier eröffnet demnächst das Fischrestaurant Kaspijka. Und selbst das Fatsfood wie bei McDonald’s gibt es wieder. Das Menü gleicht dem amerikanischen Original, aber die Inhaber der Restaurants sind nun russisch, der Name der neuen Kette lautet „Schmeckt und Punkt“. Die Staatsmedien berichteten groß darüber, als wäre die Bewältigung der Sanktionen eine patriotische Aufgabe. Nur 3,9 Prozent Arbeitslosigkeit habe es im Mai im Land gegeben, verkündete das staatliche Statistikamt Rosstat am Mittwochabend.

Andere Nachrichten lassen diese positiven Meldungen im anderen Licht erscheinen. Erst in dieser Woche wurde bekannt, dass die heimische Pkw-Produktion im Mai auf 3,3 Prozent des Vorjahresniveaus abgestürzt ist. Große ausländische Hersteller wie VW oder Renault haben das Land verlassen, aber auch russische Fließbänder stehen ohne westliche Bauteile still.

Fast allen Branchen droht ein Defizit an westlichen Maschinen und Ersatzteilen. Mangels Nachschub fürchten etwa die Agrarbetriebe vor allem defekte Kugellager und Hydrauliksysteme an ihren Großtraktoren, aber ebenso den Zusammenbruch ihrer ausländischen Computerprogramme.

Was Hochtechnologie und Software angeht, funktioniert die von Wladimir Putin ausgerufene „Importersatzwirtschaft“ bisher nicht. Manager von Zementfabriken oder Pharma-Fabriken sind jetzt in der Türkei unterwegs, um Ersatz für westliche Technik und Software aufzutreiben.

Nach Angaben des stellvertretenden Innenministers Igor Subow fehlen 170 000 IT-Spezialisten, die staatliche Sberbank hat begonnen, Studenten ohne Diplom einzustellen. Russland droht eine neue Mangelwirtschaft, in der fehlende Präzisionsbauteile durch Improvisation, Imitate oder einfach Pfusch ersetzt werden.

Wie stark der Import insgesamt gelitten hat, ist unklar, laut Bloomberg sank allein der Umschlag von Containerfrachten in russischen Häfen in den vergangenen Monaten um 60 Prozent. Die Zentralbank rechnet für das gesamte laufende Jahr mit 37 Prozent weniger Importen. Doch auch diese Prognose könnte zu optimistisch sein.

Nach Angaben des amerikanischen Peterson-Instituts für Internationale Wirtschaft sind selbst Einfuhren aus China, Russlands großem Hoffnungsträger als künftigem Handelspartner, um 38 Prozent gesunken.

Schon hat Putin ein neues Gesetz unterschrieben, das den „parallelen Import“ legalisiert, also Einfuhren sanktionierter Güter ohne Genehmigung des Herstellers. Es geht zunächst um teure Pkw-Marken, Smartphones, aber auch verbotene Ausrüstung für die Öl- und Gasförderung oder um Lokomotiven. Sie sollen künftig über Zwischenhändler etwa in Kasachstan oder Aserbaidschan nach Russland gelangen.

Nach einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts FOM, glauben 60 Prozent der russischen Kleinunternehmer:innen, die Wirtschaftslage habe sich verschlechtert, aber 65 Prozentsind überzeugt, der Sanktionskrieg werde die russische Wirtschaft nicht vernichten.

Patriotismus ist Mode. „Uns wird es schlecht gehen, aber Europa noch viel schlechter“, ruft ein Mittdreißiger durch die Moskauer Szenekneipe Red Eric.

„Es werden keine hundert verschiedenen Kühlschränke mehr zum Kauf stehen, weniger teure Westautos herumfahren“, prophezeit Iwan Rodionow, Finanzexperte der Moskauer Hochschule für Wirtschaft, im Gespräch mit der FR. „Aber selbst wenn sich der Lebensstandard halbiert, gibt es keinen Aufstand.“ Allerdings erwartet Rodionow auch, der Feldzug in der Ukraine werde im Herbst halbwegs erfolgreich beendet sein.

Die Zentralbank sieht 17 Prozent Jahresinflation voraus, Tendenz fallend. Beruhigend ist das nicht. Ein Programmierer aus St. Petersburg berichtet, wie sich das Leben verteuert: „Im März kostete eine Pizza 1200 Rubel, jetzt 2200 Rubel.“ Als IT-Spezialist will er aber sowieso Russland verlassen. (Stefan Scholl)