Canor AI 1.10 im Test: Röhren-Sound für besondere Musikmomente - HIFI.DE

2022-06-24 21:05:55 By : Ms. Yoga Liu

Wenn es um bestmöglichen Klang geht, kennt die slowakische Edelmarke Canor keine Technologie-Dogmen. Klassische Transistortechnik, moderne Class-D-Konzepte und vermeintlich altmodische Röhren finden sich gleichberechtigt in ihrem Programm. Dass der AI 1.10 ein Röhrenverstärker ist, sieht man ihm dann auch erst auf den zweiten Blick an. Hier geht es nicht um Show. Sondern um bestmöglich klingende Verstärker, umgesetzt ohne jegliche Scheu vor aufwendigen Schaltungsdetails und teuren Bauteilen. Die außergewöhnliche Qualität des AI 1.10 fällt im Hörraum sofort auf.

Du suchst doch etwas Moderneres? Wie wäre es mit einem Streaming-Verstärker?

Wenn die deutsche Band Tocotronic auf ihrer aktuellen Doppel-LP Nie Wieder Krieg geradlinige Rocksongs mit lyrischen Balladen kombiniert, muss auch die Anlage wandlungsfähig sein. Gerade die straighten Rocker wie Ich Hasse Es Hier beginnen auf überanalytischen Anlagen schnell mit vordergründig-dünnem Sound zu nerven. Andererseits will man die flirrende Schönheit von Ich Tauche Auf nicht mit bräsigem Dumpfklang verschmieren. Erst recht, wenn in der zweiten Strophe die anmutige Stimme von Anja Plaschg alias Soap&Skin hinzukommt.

Der Canor AI 1.10 findet den perfekten Mittelweg. Er rockt mit ernsthaftem Druck, stellt die Stimme von Sänger Dirk von Lowtzow mit dem richtigen Volumen dar und lässt Soap&Skin wie einen Engel über der gezupften Gitarrenbegleitung schweben. Wie schwer es ist, genau diese Balance zu treffen, wird erst beim Vergleich mit anderen guten, teuren Verstärkern klar: Andere Röhren wirken hier oft etwas zu ätherisch, Transistoren dagegen matt und desinteressiert.

Im Canor treffen dagegen Autorität, Feinsinn und Farben-Vielfalt zusammen, so locker und selbstverständlich, als wäre es das Einfachste auf der Welt. Dabei ist genau das Gegenteil wahr: So natürlich und ungekünstelt klingen Verstärker nur nach akribischer Entwicklungs- und Abstimmarbeit. Und nie, wirklich nie, erreicht man dieses Ziel auf einer preiswerten Abkürzung. Der technische und finanzielle Aufwand ist meistens sogar bedeutend größer als beim AI 1.10.

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Eklatant ist beim Canor das Missverhältnis zwischen klanglicher Dynamik und Leistungsangaben. Ganz realistisch versprechen die Entwickler bescheidene 40 Watt pro Kanal. Das ist eher konservativ für die verwendete Röhrenbestückung und berücksichtigt auch die Tatsache, dass der Verstärker in besonders verzerrungsarmen, aber auch extra-ineffizienten Class-A-Modus läuft. Wir haben The Line Is A Curve von Kae Tempest trotzdem noch mit keinem Amp druckvoller und lebenspraller gehört.

Das Album setzt fast fiebrig herausgepresste Verse vor elegante, satt groovende Elektro-Beats. Das akustische Ergebnis lässt die Wände unseres eher kleinen Hörraums respektvoll zurückweichen: So großformatig, dynamisch und druckvoll bekommen auch Transistoramps mit dreistelligen Wattzahlen diese Musik nicht hin. Auch wenn wir den AI 1.10 mit Gewalt und rücksichtslosen Tiefbassorgien durchaus an sein Limit bringen können: Im Höralltag mit einem mittelgroßen Raum und nicht völlig abstrusen Pegeln ist der Canor absolut souverän und durch nichts zu erschüttern. Sein dicker, griffig hervorstehender Volume-Knopf wirkt dabei stets wie eine freundliche Einladung, doch ruhig noch ein bißchen weiter aufzudrehen.

Dass der Canor AI 1.10 mit Röhren arbeitet und dabei konsequent ohne einen Krümel Silizium im Signalweg auskommt, bindet er dem Hörer nicht auf die Nase. Sein Klang kommt ohne künstliche Wärme aus, die viele Röhrenamps als audiophilen Geschmacksverstärker über die Musik ausgießen. Umso vielfältiger sind seine Klangfarben, umso üppiger seine musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten. Auch die klassischen Röhrenamp-Schwächen sind weniger ausgeprägt: Der Bass wirkt ungewöhnlich straff, die Raumabbildung präziser und stabiler, als wir das von anderen, selbst guten Röhrenverstärkern kennen.

Beim Klang hast du übrigens die Qual der Wahl: Je nach verwendetem Lautsprecher, aber auch abhängig vom Hörgeschmack und Musikprogramm kannst du die Röhren-Endstufe im Ultralinear- oder im Triodenmodus hören. Bei Letzterem hat der Verstärker dann nur noch die Hälfte seiner Leistung, klingt aber mit den richtigen Lautsprechern noch feiner und natürlicher. Zumindest, solange du dabei nicht so weit aufdrehst, dass die Röhren an ihrer Leistungsgrenze arbeiten. Mit unseren Tannoy-Monitoren haben wie den AI 1.10 lieber im Ultralinear-Modus gehört. Aber diese Entscheidung musst du in deinem Hörraum selbst treffen – mir deinen eigenen Boxen und deinen eigenen Ohren.

Auch mit hochwertigen Regallautsprechern kannst du den AI 1.10 gut kombinieren:

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Das weiträumige Gehäuse des AI 1.10 erlaubt einen luftigen, ordentlichen Aufbau ohne Bauteil-Gedränge. Das ist bei Röhrenamps doppelt sinnvoll: Elektromagnetische Störausdünstungen haben somit weniger Einfluss auf benachbarte Bauteile, und die erhebliche Abwärme kann ungestört aus der Schaltung entweichen. Denn – und damit sind wir bei einem entscheidenden Nachteil eines Röhren-Amps im Class-A-Betrieb – der Canor AI 1.10 genehmigt sich im Betrieb immerhin rund 400 Watt aus der Steckdose. Und einen Großteil davon setzt er in Wärme um.

Die linke Gehäusehälfte wird von einem wuchtigen Netztrafo dominiert, den Canor selbst herstellt. Er ist vergossen und in einem Metallgehäuse gekapselt. Zentral sitzt die große Hauptplatine, die unter anderem sämtliche Röhren trägt. Dabei handelt es sich um vier Beam-Tetroden des Typs KT88 in der Endstufe, sowie drei Doppeltrioden, die ihnen als Vor- und Treiberstufe dienen. Die KT88 sind bewährte Leistungsröhren, jederzeit einfach und in großer Auswahl nachkaufbar. Canor nimmt nicht irgendwelche, sondern 110-prozentig geprüfte aus dem hauseigenen Röhrentester „Aladdin“. Der unterzieht jeden verbauten Glaskolben einem mehrtägigen Stresstest und loggt alle gemessenen  Eigenschaften automatisch in einer Datenbank. So lassen sich jederzeit perfekt passgenaue Ersatzröhren finden. Der Neukäufer muss sich mit dem Thema aber erstmal gar nicht beschäftigen: Im monatelangen Test-Dauerbetrieb des 1.10 und anderer Canor-Modelle trat nicht das kleinste Zirpen, Knistern oder Brummen auf, das die Anwesenheit von Röhren sonst gern verrät – ganz zu schweigen von echten Defekten.

Zuverlässig und gut wird der Canor auch durch zahlreiche Konstruktions-Kniffe, die auf den ersten Blick kaum auffallen. So sind die Leiterplatten, auf denen die Verstärkerbauteile hausen, um die leitenden Kupferspuren herum präzise ausgefräst, um deren unerwünschte Kondensatorwirkung zu vermindern. Werden im Signalweg tatsächlich Kondensatoren benötigt, übernehmen teure MCap-Zinnfolien des deutschen Herstellers Mundorf diese Aufgabe.

Luxuriös und zugleich sinnvoll ist die Lautstärkeregelung realisiert: Statt eines Potentiometers senkt ein Netzwerk aus Präzisionswiderständen den Pegel relaisgesteuert in 64 Stufen ab. Das erzeugt beim Laut- und Leisedrehen ein lustiges Klick-Konzert im Gerät. Es funktioniert aber viel genauer und langzeitstabiler als die Standardlösung mit einem Potentiometer. Das gilt heute umso mehr, weil hochwertige Motorpotis immer schwerer zu bekommen sind.

Auch die Eingangswahl erfolgt über Relais. Dabei wundert man sich zunächst, dass die auf der Rückseite sichtbaren symmetrischen XLR-Inputs nicht anwählbar sind. Das ist kein Fehler, sondern Teil einer interessanten Upgrade-Möglichkeit. Denn über die symmetrischen Inputs kannst du aus dem Stereo-Amp ein gebrücktes Mono-Kraftwerk machen. Dann brauchst du eben zwei AI 1.10, erntest aber auch rund die doppelte Leistung. An der Bedienung ändert sich nichts, weil die beiden Amps ihre Lautstärkeregelung dann über ein Steuerkäbelchen synchronisieren.

Aber nötig ist das nun wirklich nicht. Auch ohne Mono-Brückenbetrieb ist der AI 1.10 einer der universellsten Röhren-Vollverstärker, die wir kennen. Es gibt durchaus Vergleichsmöglichkeiten mit ähnlicher Röhrenbestückung für weniger, ähnlich viel und auch deutlich mehr Geld. Oft reagieren diese Amps jedoch empfindlich auf die angeschlossenen Lautsprecher. Nicht so der Canor AI 1.10. Seine sehr großzügige, unkomplizierte Kombinierbarkeit ist neben seinem überragenden Klang eine der Besonderheiten, die ihn in der Praxis auszeichnen. An den meisten verbreiteten Lautsprechern kann er seine Vorzüge ausspielen.

Die Verarbeitung des in der Slowakei gebauten Verstärkers ist überragend. Dickes, pulverbeschichtetes Stahlblech bildet das Gehäuse, fein gebürstetes Massiv-Alu die Frontplatte. Das große, zugleich besonders störarme Punktmatrix-Display lässt sich auch aus der Ferne bestens ablesen, ist aber für konzentrierten Musikgenuss auch dimm- und abschaltbar. Der Lautstärke-Drehknopf läuft spielfrei in einem Kugellager und fühlt sich beim Drehen so gut an, dass man ab und zu gern auf die Fernbedienung verzichtet. Aber nur ab und zu, denn auch der IR-Sender ist adäquat als kleiner Alubarren gestaltet und liegt angenehm schwer in der Hand.

Bei der Planung solltest du im Hinterkopf behalten, dass der AI 1.10 weder über einen Kopfhöreranschluss noch über sonstige Ausgänge verfügt. Mehr als fünf Line-Quellen und ein Paar Lautsprecher kann man daran nicht anschließen. Das macht den Betrieb eines Kopfhörerverstärkers oder auch eines Subwoofers entsprechend umständlicher. Ein Phono-Vorverstärker ist im AI 1.10 ebenfalls nicht eingebaut. Für Plattenspieler benötigst du also einen separaten Preamp. In der Qualitätsklasse des Canor ist das ohnehin die beste Lösung, auch wenn du dir nicht unbedingt gleich die spektakulär guten Canor-Phonostufen PH 1.10 und 1.20 leisten musst.

Im alltäglichen Umgang verhält sich der Canor wie ein ganz normaler Verstärker – abgesehen davon, dass er vom Einschalten bis zum ersten Ton etwa 30 Sekunden Hochfahrzeit benötigt. Dafür macht er jede Musik, die du ihm mit einer passend hochwertigen Quelle servierst, zu einem Fest aus Klangfarben, Dynamik und prickelnder Atmosphäre. Fast alles, was du danach hörst, wird kleiner, weniger intensiv und auch ein bisschen langweilig klingen. Wohlgemerkt im direkten Kontrast. Denn auch mit kleineren Anlagen kann man unglaublich viel Spaß haben. Das ändert aber nichts daran, dass der AI 1.10 seinen hohen Preis musikalisch und klanglich voll und ganz rechtfertigt.

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Wie gefällt dir der Canor AI 1.10? Bist du Fan von Röhrenverstärkern oder setzt du doch lieber auf modernere Technologien? Lass es uns in den Kommentaren wissen!

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